Was sich derzeit in Afghanistan abspielt, ist eine menschliche Tragödie von furchtbaren Ausmaßen. Und – sie war vorhersehbar. Die WAZ berichtet am 18.08. unter Berufung auf eine Sozialarbeiterin in Kabul, dass die afghanischen Frauen den Taliban ihren angeblichen plötzlichen Sinneswandel nicht abnehmen – im Gegenteil, sie fürchten, dass sie nicht mehr arbeiten dürfen, und dass alle Frauen und Mädchen ab 12 Jahren, die noch keinen Mann haben, zwangsverheiratet werden. Mutige Frauen protestieren bereits in Kabul gegen diese Unterdrückung. Ihnen gilt unsere volle Unterstützung. Doch was tun die Regierungen Europas? „Als Ende Juni die letzten Bundeswehrsoldaten das Land verließen, wurden vorher über 20.000 Liter Bier, Wein und Sekt sowie ein 27 Tonnen schwerer Gedenkstein »in Sicherheit« gebracht“, berichtete die Organisation Pro Asyl. Und die Menschen?
Die Bilder prägen sich in unser Bewusstsein: Menschen, die sich an startende Flugzeuge klammern und in den Tod stürzen, verzweifelte Mütter, die ihre Babys über einen Stacheldrahtzaun den Soldaten zuwerfen in der Hoffnung, dass sie gerettet werden – angesichts dieser menschlichen Dramen ist die Haltung unserer Regierung an Zynismus kaum mehr zu überbieten: noch am 5. August schrieb Innenminister Seehofer zusammen mit seinen Amtskollegen von Österreich, Dänemark, Belgien, den Niederlanden und Griechenland einen Brandbrief an die Europäische Kommission, und forderte sie auf, forciert mit Afghanistan eine „Rückkehrpartnerschaft“ auszuhandeln, damit zügig weitere Abschiebungen von afghanischen Staatsbürgern stattfinden können! Wenn jetzt endlich zusammen mit deutschen Staatsbürgern auch einige wenige der früheren afghanischen Mitarbeiter der Bundeswehr – sogenannte „Ortskräfte“ – ausgeflogen werden, zeigt, dass die Politik so kurz vor den Wahlen auf die Stimmung in der Bevölkerung Rücksicht nehmen muss. Doch was wird aus denen, die es nicht bis zum Flughafen schaffen? Was wird aus den über 1000 Menschen, die noch bis Juli nach Afghanistan praktisch in den Tod abgeschoben wurden?
CDU-Kanzlerkandidat Laschets einzige Sorge in dieser Situation: „2015 darf sich nicht wiederholen“! Was war 2015? Unter dem Druck der Bevölkerung entschloss sich damals Kanzlerin Merkel, kurzzeitig das Dublin-Abkommen einseitig aufzukündigen und eine knappe Million Flüchtlinge – vor allem aus Syrien – in Deutschland aufzunehmen. Doch noch im selben Jahr verschärften die europäischen Regierungen ihre Abschottungspolitik: personelle und technische Aufrüstung von Frontex, Vereinbarungen mit Türkei, mit Libyen – mit der Folge von Tausenden von Ertrunkenen im Mittelmeer, illegalen pushbacks, massiver Einschüchterung und Kriminalisierung von Seenotrettern.
Dies alles in einem Europa, das sich angeblich der Charta der Menschenrechte verpflichtet hat! Dieses Europa will jetzt, dass die Flüchtlinge in den Nachbarländern von Afghanistian aufgenommen werden sollen. Was für ein Zynismus – genau in solchen Ländern, in denen die Scharia bereits gilt, wie im Iran oder Pakistan, sollen die Flüchtlinge, die vor den Taliban fliehen, Zuflucht finden? Das ist Menschenverachtung pur!
Viele Flüchtlinge beklagen, dass ihre Fluchtgründe nicht wirklich angehört, geschweige denn, ihnen geglaubt wird, dass sie unter Lebensgefahr aus ihren Heimatländern geflohen sind. So im Fall von Alassa Mfouapon, wo in der Ablehnungsbegründung seines Asylantrages zynisch von seinem „angeblich ertrunkenen Sohn“ gesprochen und ihm jegliche Glaubwürdigkeit abgesprochen wird, genauso wie zwei kolumbianischen Gewerkschaftern, die von paramilitärischen Banden mit dem Tode bedroht wurden, um nur zwei Beispiele aus der Fülle von Asyl-Ablehnungen der letzten Tage aufzugreifen. Doch ist es nicht vielmehr wenig glaubwürdig, dass es einem der effektivsten Auslandsgeheimdienste der Welt, der zudem mit vielen anderen Geheimdiensten bestens zusammenarbeitet, verborgen geblieben sein soll, welche Zustände in diesen Ländern herrschen? Laut Umfragen befürworten zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland, dass Menschen, die in Afghanistan verfolgt sind, in Deutschland Schutz finden sollen. Herr Seehofer, nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem Wahlvolk, das im Gegensatz zu Ihnen die Tugend der internationalen Solidarität hochhält! Wer so eine menschenverachtende Flüchtlingspolitik betreibt, muss zurücktreten.