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Justice for Mouhamed! 

Über 100 Menschen aus Deutschland, Angola, Afghanistan, Kurdistan, Guinea, dem Iran, Marokko und weiteren Ländern nehmen zur Stunde in Dortmund an der Gedenkfeier für Mouhamed Lamine Dramé aus dem Senegal teil, der am 8. August durch Polizeikugeln starb. Die Feier steht unter dem Motto „Justice für Mouhamed!“

Der Freundeskreis Flüchtlingssolidarität in SI ist vertreten, Arbeiter und Courage-Frauen nehmen teil, MLPD- und REBELL-Genossinnen und -Genossen. Unter den kulturellen Beiträgen ist Musik von Levi Meka. Er sagt, er ist hier für Mouhamed, auch weil er selbst fünf Kinder hat und alles tun will, dass eine solche Tat nie wieder passiert. Alassa Mfouapon, selbst Flüchtling und Sprecher des Freundeskreises Flüchtlingssolidarität in SI, hält die Gedenkrede, die er Rote Fahne News zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.

Liebe Freundinnen und Freunde! Liebe Familie und Freunde von Mouhamed in Ndiafatte! Mit dieser Veranstaltung und ihrer Aufzeichnung grüßen wir euch über 4600 km Entfernung und sprechen euch unsere große Anteilnahme und Solidarität aus. Wir sind mit euch und wir werden euch und Mouhamed nicht im Stich lassen.

Liebe Freundinnen und Freunde, in meiner Heimat Afrika ist es in vielen Regionen üblich, 100 Tage nach dem Tod eines Menschen erneut seiner zu gedenken. Ich finde das einen guten Brauch. Kurz nach dem Tod regieren Schock, tiefe Trauer und die Beschäftigung mit all den Notwendigkeiten der Beerdigung. Jetzt haben wir etwas Abstand, viele politische Aktivitäten entfaltet und Pläne für die Zukunft geschmiedet. Heute aber sind wir zusammengekommen, um an Mouhamed Lamine Dramé zu denken, gemeinsam um ihn zu trauern, ihn noch näher kennenzulernen. Wir  brauchen einen langen Atem für Justice for Mouhamed!  (Eine Trauerminute)

Mouhamed hat sein Leben noch gar nicht gelebt!

Er wird nur entstehen, wenn wir uns mit unserem ganzen Denken, Fühlen und Handeln auf seine Geschichte und sein Schicksal einlassen. Wenn wir ihn als unseren engen Freund, unseren Bruder, unseren Sohn, unseren Gefährten sehen und empfinden lernen. Dafür sind wir heute hier.

Aus meiner Heimat Afrika kommt auch das Sprichwort: »Der Mensch wird geboren um zu leben und zu sterben.« Das ist eine sehr nüchterne und treffende Weisheit, um das Leben und Vergehen jedes Menschen als ganz normal anzusehen und zu empfinden. Doch: Mouhamed hat sein Leben noch gar nicht gelebt! Es war noch nicht die Zeit für ihn zu sterben! Es war ein brutaler, lebensfeindlicher gewaltsamer Tod, der den offenbar schwer traumatisierten 16-Jährigen am 8. August brutal aus dem Leben riss. Elf Polizisten traktierten ihn mit Pfefferspray und einem Elektro-Taser und erschossen ihn schließlich mit sechs Schuss aus einer Heckler & Koch-Maschinenpistole. Es wird berichtet, dass er selbst seinem Leben ein Ende setzen wollte. Wir wissen nicht, ob das stimmt; und wenn ja: Was hat diesen als lebensfroh geschilderten Jugendlichen in eine solch tiefe Depression getrieben?

Mouhameds Bruder Sidy hat uns geschrieben

Zu unserer heutigen Veranstaltung schrieb uns der Bruder von Mouhamed, Sidy, mit dem wir inzwischen freundschaftlich verbunden sind: »Mouhamed war ein lebenshungriger, ambitionierter junger Mann. Er liebte es zu reisen, wollte andere Länder und Nationen entdecken. Fest entschlossen wollte er sein Leben so gestalten, dass er unserer Familie hilft. Vor allem unserer Mutter wollte er ihren Wunsch erfüllen, sie nach Mekka zu bringen. Und dem Vater wollte er ein schönes Haus schenken. Da das Leben im Dorf sehr schwierig ist, setzte er sich mit Leib und Seele dafür ein, unsere Familie zu unterstützen. Er war der Freund von allen im Dorf, sehr fröhlich und hilfsbereit. Deswegen liebten ihn alle.Mouhamed hatte das Ziel, seinen Brüdern und Schwestern zu helfen, im Leben erfolgreich zu sein, insbesondere bei den Aktivitäten, die wir durchführen.

Was seine Beziehungen zu den Jugendlichen des Dorfes betrifft, so waren sie sehr gut. Ich kann sogar sagen, dass sein Tod die Jugendlichen in den Nachbardörfern sehr betroffen hat. Unsere Mutter hier ist immer noch sehr betroffen, erschüttert und verzweifelt, denn Mouhamed stand ihr sehr nahe. Mouhamed war unsere große Hoffnung. Er hat immer gesagt: Mach dir keine Sorgen, ich werde weggehen und dann seid ihr nicht mehr arm. Er hat als Fischer gearbeitet und unermüdlich das Geld für die Reise nach Europa gespart. Schließlich hat er seinen Rucksack gepackt und sich verabschiedet. Heute wollen alle Gerechtigkeit für ihn. Denn die Polizei in Deutschland hat die Hoffnung einer ganzen Familie zerstört.«

Wir wissen nicht, was er auf der Flucht alles erlebt hat

Die Schilderung eines lebensfrohen Mouhamed ist nicht etwa ein Mythos, 100 Tage nach dem seinem Tod zurechtgestrickt. Sidy zeigt auch Videos von ihm, lachend, tanzend – in Aufbruchstimmung. In einer solchen Aufbruchstimmung machte er sich auf den Weg, um seiner Familie und dem Dorf Glück zu bringen. Wir wissen nicht, was er auf der Flucht alles erlebt hat. Wir wissen nicht einmal genau, welche Route er genommen hat. Aber wir wissen, dass allein in diesem Jahr mindestens 1400 Migrantinnen und Migranten auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken sind. Ich bin ein lebendes Beispiel, denn auf dieser Straße habe ich ein Kind, einen Cousin und Freunde verloren. Mögen ihre Seelen in Frieden ruhen.

Wir wissen, dass die paramilitärische Grenzschutztruppe Frontex der EU immer noch Flüchtlinge drangsaliert und ihr Leben gefährdet. Wir wissen, dass nicht erst die neue faschistische Regierung in Italien Flüchtlingen die Landung verweigert und den Besatzungen von Seenotrettungsschiffen mit Gerichtsprozessen überzieht. Wir wissen, dass es allein in den ersten drei Quartalen dieses Jahr 65 faschistische Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland gegeben hat – in neun Monaten fast ebenso viele wie im gesamten Vorjahr.

Ohne Wissen um seine genauen Erlebnisse wissen wir also, welchen Gefahren, welcher Not, sicher auch Hunger, Kälte und vor allem Angst er ausgesetzt war. Im Kontakt mit seinem Bruder sagte er aber wieder und wieder: es geht mir gut, macht euch keine Sorgen!

Im Senegal geboren und aufgewachsen

Mohammed ist in dem Dorf Ndiaffate im Senegal in Westafrika geboren und aufgewachsen. Entgegen den Behauptungen der Medien hat er acht Brüder und wäre der vierte. Beide Eltern leben noch.

Nüchtern erfährt man vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: »Energieknappheit, Nahrungsmittelkrisen, ein starkes Bevölkerungswachstum und eine hohe Arbeitslosigkeit hemmen die Entwicklung des Landes. Die senegalesischen Regierung steht vor großen innen- und sozialpolitischen Herausforderungen: nach Schätzungen leben etwa 40 % der Bevölkerung in Armut. … Laut Schätzungen sind rund 40 % der Erwerbstätigen arbeitslos oder unterbeschäftigt. Noch immer gelten fast 10 % der Bevölkerung als unterernährt … Die Analphabetenrate liegt bei knapp über 50 %. Vor allem in den ländlichen Gebieten ist die medizinische Versorgung völlig unzureichend. Die Müttersterblichkeit im Zusammenhang mit Geburten ist hoch, ebenso die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren.« (www.bmz.de)

Ungeachtet dieser Tatsachen berichtet die Organisation Migration Control: »Der Senegal gilt in Deutschland, Frankreich und Luxemburg als sicheres Herkunftsland. D. h., dass Asylanträge von Senegales:innen als offensichtlich unbegründet betrachtet werden. Alle Anträge wurden abgelehnt.« (migration-control.info)

Dämmerte Mouhamed vielleicht diese Erkenntnis und stürzte ihn in die Depression? Wir wissen es nicht.

Der Journalist Tim Röhn ist in Mouhameds Dorf gereist

Der Journalist Tim Röhn ist – soviel wir wissen – der einzige, der sich die Mühe machte, in Mouhameds Dorf zu reisen. Er berichtet: »Seine Eltern, sie leben. Und er hat neun Geschwister, drei Brüder, sechs Schwestern. In dem Dorf, das vier Autostunden von der Hauptstadt Dakar entfernt liegt und auf dem letzten Abschnitt nur über schlammige, von knietiefen Erdlöchern übersäten Pisten zu erreichen ist, treffen sich die jungen Leute auf dem Hauptplatz unter der riesigen Akazie. Daneben spielen die Kinder barfuß Fußball. Dass Mohammed nicht mehr lebt, erfuhren sie erst ein paar Tage nach den Schüssen über das Internet. Einer der Männer erblickte eines Tages ein Foto von Mohamed im facebook-Post einer senegalesischen online-Zeitung. Dazu die Information, dass der Junge ums Leben gekommen ist. In Deutschland. Ein Freund Mohammeds rannte zur Hütte der Eltern, rief nach Lamine, dem Vater und überbrachte ihm die Nachricht. Viele im Dorf wählten Mohammeds Telefonnummer, aber sein Handy war aus. … Die Bürgermeisterin flog nach Deutschland, holte den Leichnam ab und brachte ihn zu Lamine Dramé und seiner Frau Ma Fofana, Mohammeds Mutter. Es gab einen Protestmarsch, bei dem Aufklärung gefordert wurde. Dann trug man den Jungen zu Grabe. Der Vater brach zusammen, man schleppte ihn zurück in seine Hütte.« (Bericht in DIE WELT)

Größter Wunsch der Familie: Dass Familienmitglieder beim Prozess gegen die Dortmunder Polizei anwesend sein können

Sidy hat mir berichtet, dass der größte Wunsch der Familie ist, dass Vater und Bruder bei dem Prozess gegen die Dortmunder Polizei anwesend sein und den Ort von Mouhameds Erschießung besuchen können. Wir möchten das mit vereinten Kräften Wirklichkeit werden lassen. Mehr noch, wir wünschen uns, dass auch die Mutter oder eine Schwester kommen können. Bis dahin wird es ein weiter Weg sein, Pässe, Visa, Flugkosten zu erstreiten.

Liebe Freundinnen und Freunde, wir haben uns verpflichtet, mit vielen anderen zusammen Gerechtigkeit für Mouhamed zu erkämpfen. Mouhameds Aufbruchstimmung, sein Traum von einem glücklichen, gerechten Leben für alle soll uns dabei Vorbild und Ansporn sein. Es gibt viele Menschen, die sich für Mouhamed interessieren; sie stellen Fragen, Petitionen werden organisiert, Spendenaufrufe werden gemacht.

Wird dies Mouhamed zurückbringen? Nein. Es ist unsere Pflicht, Hand in Hand zu kämpfen, damit nicht nur der Gerechtigkeit Genüge getan wird, sondern diese Tat nie wieder geschehen kann.

Justice For Mouhamed!


Alassa Mfouapon hält Die Hauptrede
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